“About Kaori Nakajima” by Berthold Reiss (German)

Es gibt eine Ausstellung und eine Einführung. Eine Bewegung, die zum Leben des Menschen relativ ist, geht aus und ein. Die Künstlerin will mit Bildern herauskommen, möglichst groß herauskommen. Wir wollen in die Bilder hineinkommen, so daß wir, wie lange auch immer, darin wohnen, so wie die Künstlerin anderswo wohnt.

Wir brauchen nur den Anteil sehen, den wir selbst an dem haben, was wir da sehen, und wir brauchen nur unseren eigenen Anteil nehmen an dem, was wir vor uns haben, um die Bewegung völlig exakt zu beschreiben, um die es hier geht.

An dem Ort, an dem wir uns befinden, geht es um Inland und Ausland. Dieses Ein und Aus wird in der Arbeit von Kaori Nakajima immer konkreter. Das heißt, es wird immer weniger ein Zustand des Lebens und immer mehr ein Zustand der Kunst. Die Bewegung, der, wenn man so will, die Bewegung selbst unterliegt, reicht von der Einladungskarte zu dem Raum, in dem wir nun stehen. Steht auf der Einladungskarte Travelling with ghost, so steht uns doch nichts Konkretes entgegen. Ein Geist, der die Reise begleitet, ist so wenig Gegenstand wie die Gedanken, die wir haben zu einem Feld von drei mal vier Quadraten, wenn man so will: Tasten, von denen zwei ohne Bild sind, reserviert gleichsam wie zwei Tische für de Künstlerin und den Geist ihrer Reise. Die Felder, gleich ob voll oder leer, sind quadratisch wie die Bilder, die wir im mittleren Abschnitt der Reise von Kaori Nakajima finden.

Der Raum nebenan, der für diesen Abschnitt steht, enthält acht Tafeln, auf denen verschwundene, bedrohte, bedrängte Völker dargestellt sind. Diese Völker sind uns, die wir verschiedenen Völkern angehören, nicht fremd, sie lebten oder leben noch in unserem Land. Die Ainu zum Beispiel, die Nakajima durch ein Menschenpaar in einem grünen Dickicht in der Form eines aufrecht stehenden Medaillons auf einer der quadratischen Tafeln repräsentiert, leben in Japan, der Heimat der Künstlerin. Die Reise der Künstlerin geht hier nicht in die Ferne, vielmehr in die Tiefe von Sein und Zeit: Ich selbst könnte mein eigener Ureinwohner sein.

Jede Rede vom Eigenen und vom Fremden kann das, was sie meint, doch nicht sein. Das Wort „fremd“ ist eigen wie das Wort „eigen“. Oder „eigen“ ist fremd wie das Wort „fremd“. Sicher gibt sich Nakajima Mühe mit Merkmalen. Der Eskimo hat eine Kapuze, der Indianer reitet auf einem Pferd und der Meißener malt blaue Vögel auf Porzellan. Aber nur ein Rassist kann die dargestellten Kinder von Aborigenes, die von Australiern adoptiert und erzogen wurden, anders als australische Kinder finden. Und Kapuzen, Pferde und Vögel können auch unsere Merkmale sein. Wir können sie zum Beispiel malen. Nicht die Merkmale sind zu lesen, sondern, daß sie gemalt sind. Kapuze, Pferd und Vogel sind gleichsam hingeschrieben, gemalt wie gezeichnet auf Tafeln, die im Vergleich mit Leinwand und Papier starr sind, Tafeln, die beweglich sind wie Lettern und Logos, deren Wahl und Ordnung aber eine besondere ist, nicht mehr so allgemein und so offen wie die Placierung auf der Einladungskarte.

Meine Damen und Herren! Ich habe versprochen, immer konkreter zu werden. Die deutsche, jüdische und amerikanische Philosophin Hannah Arendt hat bemerkt, die Romantiker hätten sich für die Sprache interessiert, die Nationalsozialisten hätten sich für die Gene interessiert. Die Nationalsozialisten hätten gemeint, das sei konkreter. Vielleicht bin ich Romantiker, wenn ich sage: Kunst ist konkreter als Leben, wenn ich meinen Rundgang in diesem Raum schließe. Meine These lautet: Hier sehen Sie gar nichts als Kunst. Ihre Antithese wird sein: Wir sehen hier das Paradies, dort ein Abenteuer im Dschungel, da Alice in den Städten. Weiterhin Kinder am Strand, Menschen oder, wie die Künstlerin sagt, Geister, etwa bei einem Ball, einen Helden in einer Landschaft. Die drei großen Ölbilder verkörpern die Bewegung, um die es hier geht, allem Anschein nach als Erzählung. Und ist die Künstlerin selbst einbezogen, vertreten durch drei junge Frauen, so kann nichts herauskommen, als eine Erzählung. Denn diese Erzählung ist keine letzte Erzählung, die Anlaß wäre für Ausdruck an der Stelle von Sprache, sie ist vielmehr erste Erzählung, Autobiographie, Erzählung von einem selbst, deren Ausdruck nicht das Bild selbst ist, auch kein Selbstporträt, sondern ein narratives Bild.

Nun sind wir am Ende, wenn wirt nicht weiter Anteil nehmen. Ich nehme mir meinen letzten Anteil heraus in der folgenden Skizze:

Das Buch, das Kaori Nakajima unter dem Titel Travelling with ghost aufschlägt, enthält keine Illustrationen, sondern umgekehrt Bilder, die von ihren Texten gelöst sind. Diese Texte müssen wir uns selber erfabeln. Mit einiger Freiheit können wir uns dieses Bild (Die Tanzende) in Leuchtkästen als Plakat für eine Telenovela mit dem ungefähren Titel „Verliebt in Berlin“ vorstellen. – Über die Qualität von Malerei entscheidet die Kunstgeschichte. Zu dieser Qualität gehört, daß jede Malerei sich selbst auf ihre Geschichte bezieht.v Die Malerei, auf die sich die Malerei von Kaori Nakajima bezieht, erzählt selbst eine Geschichte. Indem sie eine Geschichte erzählt, hat sie die Geschichte, daß sie vor der Moderne stattfindet, in einer Epoche, in der Sprache und Ausdruck noch nicht getrennt sind. Diese Epoche lebt aber mitten unter uns in jedem Bild, das die Frage nicht abweist, was es denn darstellt. – Meine Damen und Herren! Ich stimme ihrer Antithese in der folgenden Weise bei: Populär sind die Bilder, deren Ausdruck der Sprache entspricht. Der Maßstab für politisch korrekte Kunst etwa wäre in diesem Sinne ihre Popularität. Es ist nun bemerkenswert, daß sich eine Künstlerin aus dem Mutterland der Mangas offenbar im Umkreis einer europäischen Illustration des 19. Jahrhunderts und fern von jedem Comic aufhält, daß sie Alfred Kubin näher als Roy Lichtenstein steht. Und diese Ausführung über die Antithese läßt mich meine These verdeutlichen: In diesem Raum geht es um nichts mehr als Kunst. Vielleicht sollte ich besser sagen: Es kann um nichts mehr als Kunst gehen. Kaori Nakajima arbeitet über europäische Illustrationen, wie europäische Künstler des 19. Jahrhunderts über japanische Farbholzschnitte gearbeitet haben. In einigen Blättern ist ebenso zeichnerisch gemalt, farbig gezeichnet, wie die Zeichen des Bildes quasi geschrieben sind. Die Linien, die eine Landschaft beschreiben, können wir zugleich als Zeilen eines Textes erkennen, die Figur in dieser Landschaft als Zeichen in diesem Text. Die Reise, auf der sich Kaori Nakajima befindet, könnte darin enden, daß wir unsere Begriffe von Sprache und Ausdruck neu aufeinander beziehen müssen.

Berthold Reiss, 2007 (German)

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